Ausklammerung
Inhaltsverzeichnis
Allgemeines zum Variantenphänomen
Ein charakteristisches Merkmal des Satzbaus im Deutschen besteht darin, dass die Bestandteile eines mehrteiligen Prädikats sich auf zwei voneinander getrennte Positionen im Satz verteilen und so eine Klammer bilden. Den Bereich zwischen den beiden Klammerhälften bezeichnet man als Mittelfeld (vgl. auch Satzgliedstellung). In Hauptsätzen steht in der linken Satzklammer die konjugierte Form eines Hilfsverbs, eines Modalverbs oder eines Vollverbs, in der rechten Satzklammer befinden sich die übrigen Teile des Prädikats bzw. Verbzusätze wie aus- oder vor-: Maria hat gestern ein schönes Geschenk gekauft. Sie wollte es für eine Freundin besorgen. Sehr sorgfältig wählte sie es aus. Hoffentlich wird sie für ihre Mühen belohnt werden. Nur in einfachen Verbformen, also ohne Hilfs- und Modalverb, und ausschließlich bei Verben ohne Verbzusatz bleibt die rechte Satzklammer leer: Das Geschenk gefiel der Freundin sehr. In Nebensätzen ist die rechte Klammerhälfte in jedem Fall besetzt, in der linken Klammer steht in diesem Fall die einleitende Konjunktion: Sofort riss sie die Verpackung auf, weil sie Überraschungen liebt.
Die Klammerbildung ist für Sender und Empfänger einer Äußerung nicht immer unproblematisch. Denn das Prädikat (und hiervon besonders das Vollverb) spielt die wichtigste Rolle für Konstruktion und Bedeutung des gesamten Satzes. Je umfangreicher aber das Mittelfeld wird, desto mehr Gedächtnisleistung ist erforderlich, bis das Prädikat vollständig ist. Besonders im Mündlichen kommt es deshalb regelmäßig zu grammatikalisch falschen Sätzen oder zum Satzabbruch (sog. Anakoluth). Um dem entgegenzuwirken, werden Satzelemente ausgeklammert, d. h. aus dem Mittelfeld herausgenommen und hinter die rechte Satzklammer in das Nachfeld versetzt. Während solche Ausklammerungen in der gesprochenen Sprache weit verbreitet sind, hängt es im geschriebenen Gebrauchsstandard von der Art des jeweiligen Elements ab, ob es ausgeklammert werden kann oder nicht. Wie häufig auf diese Möglichkeit zurückgegriffen wird, variiert überdies je nach Areal.
Ausklammerung von Nebensätzen
Die Ausklammerung von Nebensätzen (einschließlich Infinitivgruppen mit zu) ist laut Fachliteratur die Regel.[1] Dies kann durch die Variantengrammatik bestätigt werden. Vor allem bei Inhaltssätzen (Subjekt- bzw. Objektsätzen) sowie Konsekutivsätzen wäre die Stellung im Mittelfeld nahezu inakzeptabel: *Sie hat sich, dass er kommen konnte, gefreut. *Der Bus ist, sodass wir zu Fuß gehen mussten, zu spät gekommen. Hier muss also ausgeklammert werden: Sie hat sich gefreut, dass er kommen konnte. Der Bus ist zu spät gekommen, sodass wir zu Fuß gehen mussten.
Beispielbelege
- Grassers Anwalt wollte nicht wörtlich bestätigen, dass es sich am Mittwoch um die dritte Befragung gehandelt habe. (Tiroler Tageszeitung).
- Er selbst habe sofort interne Ermittlungen in Auftrag gegeben, um die Vorfälle aufzuklären. (Hannoversche Allgemeine).
- Die Mitglieder des Gewerbevereins haben ihn in einer Wahl bestimmt, bei der es keinen Gegenkandidaten gab. (Stuttgarter Zeitung).
Ausklammerung von Präpositionalphrasen
Ausklammerung von Präpositionalphrasen BELG, CH, D, STIR
Die Ausklammerung von Präpositionalphrasen ist besonders in D-mittelost gebräuchlich und wird auch in STIR recht häufig vorgenommen. In den westlich gelegenen Arealen CH, D-südwest, BELG, D-mittelwest und D-nordwest kommt sie zumindest vor, in allen übrigen Sprachregionen hingegen tritt sie nur sporadisch auf.
In Nachschlagewerken findet sich gelegentlich die Feststellung, dass diese Ausklammerungen hauptsächlich der gesprochenen Sprache angehörten.[2] Das kann durch die Variantengrammatik folglich nicht bestätigt werden. Grundvoraussetzung für die Versetzung ins Nachfeld ist allerdings, dass die Präpositionalphrase als Adverbial oder als fakultatives Präpositionalobjekt fungiert, also frei hinzufügbar ist. Präpositionale Attribute und obligatorische Präpositionalobjekte werden im geschriebenen Gebrauchsstandard dagegen nicht ausgeklammert.
Beispielbelege
- Und zweiter Bürgermeister Josef Wecker erzählte, dass die Gemeinde Althegnenberg gescheitert ist mit der Planung einer Hackschnitzelheizung [...]. (Augsburger Allgemeine). (Ausklammerung eines fakultativen Präpositionalobjekts)
- Seit 2011 werden keine Lehrlinge mehr ausgebildet trotz Nachwuchsbedarfs. (Thüringer Allgemeine). (Ausklammerung eines Adverbials)
- Die Notwendigkeit des Zusammenschließens hatte die Natur vorgegeben mit Trockenperioden und merklich geringerer Wasserführung. (Der Vinschger). (Ausklammerung eines Adverbials)
Karte und Frequenztabelle
Arealkürzel |
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A: Österreich
Vorarlberg (Vbg.), Tirol (inkl. Osttirol) (Tir.), Bezirk Zell am See/"Pinzgau" (Bundesland Salzburg)
Oberösterreich, Bundesland Salzburg (ohne
Kärnten, Steiermark
Wien, Niederösterreich, Burgenland BELG: Belgien
Rheinpfalz (Rheinland-Pfalz), Saarland, Baden-Württemberg
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz (ohne Region Rheinpfalz), Hessen
Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Niedersachsen
Brandenburg (ohne Region Niederlausitz), Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, alter Bezirk Magdeburg (Sachsen-Anhalt)
Sachsen, Thüringen, Region Niederlausitz (Brandenburg), alter Bezirk Halle (Saale) (Sachsen-Anhalt)
Bayern LIE: Liechtenstein |
Spezielle Markierungen und Abkürzungen |
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Nähere Angaben zu den festgelegten Schwellenwerten finden sich hier. |
Korpus und Quellen |
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Das untersuchte Korpus umfasst knapp 600 Mio. Wörter und enthält Texte aus 68 Zeitungen des zusammenhängenden deutschsprachigen Raums (Zeitraum: 2000-2013). Für weitere Informationen zum Korpus, zum statistischen Vorgehen sowie zu den analysierten Zeitungen siehe hier. |
Rundungsdifferenzen |
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Es können Rundungsdifferenzen auftreten, in solchen Fällen ergibt die Summe der Prozentzahlen in einer Tabelle nicht genau 100%. |
Sprachregion | Ausklammerung von Präpositionalphrasen |
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LIE | 0% (k.B.) |
STIR | 18% |
BELG | 10% |
LUX | 1% (u.S.) |
A-ost | 1% (u.S.) |
A-west | 1% (u.S.) |
A-mitte | 2% |
CH | 9% |
A-südost | 1% |
D-nordwest | 5% |
D-südwest | 9% |
D-mittelwest | 12% |
D-mittelost | 22% |
D-nordost | 3% |
D-südost | 3% |
Ausklammerung sonstiger adverbialer Ausdrücke
Unter dieser Kategorie werden solche ein- oder mehrteilige Ausdrücke zusammengefasst, die adverbiale Funktionen übernehmen, aber formal weder Nebensätze noch Präpositionalphrasen sind, z. B.: bald, nächste Woche, letztes Jahr, schnellen Schritts, gemächlich, dort, gerne, deshalb, dafür, glücklicherweise, vielleicht, immerhin, ehrlich gesagt.
In der Fachliteratur gehört die Ausklammerung dieser Ausdrücke fast ausschließlich zur gesprochenen (saloppen) Alltagssprache.[3] Tatsächlich werden gemäß Variantengrammatik lediglich temporale Adverbiale hin und wieder auch im geschriebenen Gebrauchsstandard ausgeklammert, jedoch beschränkt sich dies auf den Sprachgebrauch in D. Im übrigen Sprachraum erfolgt eine solche Ausklammerung nicht oder nur in Einzelfällen. Meistens handelt es sich dabei um ursprünglich gesprochensprachliche Kontexte (Interviews, Zitate). Es lässt sich außerdem feststellen, dass ein solches ausgeklammertes temporales Adverbial besonders dann akzeptiert wird, wenn ihm ein weiteres Adverbial folgt, das die Form einer Präpositionalphrase aufweist, denn deren Ausklammerung wird weithin akzeptiert: Es gab noch einiges zu vertreiben gestern Abend auf dem Brunnenplatz. (Berner Zeitung).
Beispielbelege
- Die Mannschaft hat ein richtig gutes Spiel gemacht heute. (Nürnberger Nachrichten).
- Derweil wollte Stimmung zunächst nur schwer aufkommen gestern bei leichtem Nieselregen. (Rheinische Post).
- Es gab noch einiges zu vertreiben gestern Abend auf dem Brunnenplatz. (Berner Zeitung).
Ausklammerung von Genitiv-, Dativ- und Akkusativobjekten
In der Fachliteratur wird die Ausklammerung von Genitiv-, Dativ- und Akkusativobjekten als nicht möglich oder allenfalls bei besonderer Betonung im mündlichen Sprachgebrauch als möglich klassifiziert.[4] Auch die Variantengrammatik kann diese Form der Ausklammerung im geschriebenen Gebrauchsstandard nicht bestätigen.
Einzelnachweise
- ↑ Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler, S. 402.
- ↑ Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. München: Iudicium, S. 179f.
Hentschel, Elke / Weydt, Harald (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin: de Gruyter, S. 431.
Weinrich, Harald (2007): Textgrammatik der deutschen Sprache. Darmstadt: Wiss. Buchges., S. 87.
Wellmann, Hans (2008): Deutsche Grammatik. Laut. Wort. Satz. Text. Heidelberg: Winter, S. 155.
Zifonun, Gisela u.a. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter, S. 1657ff. und 1674. - ↑ Engel, Ulrich (1996): Deutsche Grammatik. Heidelberg: Groos, S. 317.
Zifonun, Gisela u.a. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin: de Gruyter, S. 1660f. - ↑ Eisenberg, Peter (2006): Grundriss der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. Stuttgart: Metzler, S. 402.
Engel, Ulrich (2004): Deutsche Grammatik. München: Iudicium, S. 180.
Wahrig-Grammatik (2005): Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. Gütersloh/München: Wissen Media, S. 484.
Weiterführende Literatur
- Altmann, Hans (1981): Formen der "Herausstellung" im Deutschen. Rechtsversetzung, Linksversetzung, freies Thema und verwandte Konstruktionen. Tübingen: Niemeyer (= Linguistische Arbeiten 106).
- Auer, Peter (1997): Formen und Funktionen der Vor-Vorfeldbesetzung im Gesprochenen Deutsch. In: Schlobinski, Peter (Hrsg.): Syntax des gesprochenen Deutsch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 55–92.
- Niehaus, Konstantin (2016): Wortstellungsvarianten im Schriftdeutschen. Über Kontinuitäten und Diskontinuitäten in neuhochdeutscher Syntax. Winter: Heidelberg.
- Vinckel, Hélène (2015): Das Nachfeld im Deutschen. Theorie und Empirie. Berlin/Boston: de Gruyter (= Reihe Germanistische Linguistik 303).
Siehe auch
- Grundlagenartikel: Wort- und Satzgliedstellung (oder direkt Unterkapitel Satzgliedstellung)
- Überblicksartikel: Verbstellung
- Thematisch verwandte Artikel: Hinzu kommt, dass / Kommt hinzu, dass, Kausalsätze mit Verberststellung + doch, Reihung von Konditionalsätzen, Verberststellung in Subjekt- und Objektsätzen, Verbzweitstellung nach weil, obwohl, während, wobei, Wortstellung im Verbalkomplex
Verfasst von Werner Fuchs-Richter